Warum gibt es den Meister?
Es ist erstaunlich, heutzutage liest jeder. Gibt es jemanden, der nicht liest?
„Ja, Eşref Efendi“, sagen sie. „Wir zum Beispiel lesen nicht, wenn wir schlafen.“
„Und was macht ihr anstatt?“
„Wir schnarchen, Eşref Efendi. Wir schnarchen,“ sagen sie. „Tut sehr gut, versuch du doch auch mal.“
Klein und Groß, jeder hat ein Buch in der Hand und liest unaufhörlich. In der Schule lesen sie, im Park lesen sie, auf dem Berg lesen sie, im Tal lesen sie. Auf dem Turm lesen sie, in der Burg lesen sie und sogar in der Seilbahn lesen sie. Im Cafe lesen sie, zu Hause lesen sie, im Schlafzimmer lesen sie, im Esszimmer lesen sie, in der Küche lesen sie und wenn das alles nicht reicht, dann lesen sie auch auf der Toilette.
So etwas bezeichnet man wahrlich als Leseliebe. Das heißt, dass die Menschen von heute nicht einmal auf der Toilette verschnaufen und nur beim Schnarchen nicht lesen.
Wen ich auch sehe, alle sagen sie „lies“ „lies“ und nochmals „lies“. Mensch! Mein Kopf begreift nicht, wie soll ich denn lesen? Macht nichts, begreife oder begreife nicht, lies! Hauptsache die Leute denken von dir, du seiest ein Gelehrter.
Oft haben wir gehört: „Lass dich nicht davon täuschen, dass er gerade den Boden fegt. In Wirklichkeit ist er nämlich eine belesene Person.“
„Zwar hat er viel gelesen, aber sein Kopf ist trotzdem leer“, sage ich.
„Wieso das denn?“
„Na deswegen!“
Es liegt doch klar vor Augen. Warum sollte er den Boden fegen, wenn er auch nur etwas von dem Gelesenen verstanden hätte? Den Boden fegen, kann auch eine ungebildete Person, der Unterschied ist: der Ungebildete verrichtet diese Arbeit ohne seine Jugend verloren und die Hälfte seines Lebens vergeudet zu haben. Wer ist nun der klügere?
Warum existiert Lesen? Um den Verstand besser und besser und schließlich auf die Beste Art und Weise nutzen zu können. Einen Besen in die Hand zu nehmen und zu fegen, dazu braucht man nicht viel gelesen zu haben. Ohne gelesen zu haben, bist du auch im Stande diese Arbeit zu verrichten. Was wichtig ist, ist nicht viel zu lesen, sondern viel und richtig zu verstehen.
Nicht jeder Verstand eignet sich zum Lesen. Wenn man Kinder zum Lesen zwingt, so ist es schade um ihre Jugend. Es gibt tausend und eine Arbeit, die nicht durch das Lesen, vielleicht aber durch das Beobachten, erlernt werden können. Er mag zwar 40 Jahre lang über die Kunst einer Operation in einem Buch gelesen haben, aber wenn es zur Operation selbst kommt, scheut er vor dem Skalpell zurück und es ergreift ihn solche Angst, dass er ohnmächtig wird, sagt unser Großsheikh. Im Gegensatz dazu gibt es diejenigen, die durch das reine Beobachten nach 40 Tagen das Skalpell in die Hand nehmen.
Selbstverständlich muss der Mensch lernen. Der Mensch des 20. Jahrhunderts denkt, dass er durch das Lesen etwas lernt. Zu keiner Zeit hat eine Nation so viel gelesen wie in diesem Jahrhundert. Warum gibt es dann heutzutage Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Krankheit, Unmoral, Verrücktheit, Hilflosigkeit, Ausweglosigkeit, mehr als jemals zuvor?
Nein! Durch das bloße Betrachten eines Buches kann niemand etwas lernen. Unser Großscheikh sagt: „Wenn ein Grünschnabel plant ein Haus zu bauen, verwendet er anstelle von 10 Tonnen Zement, 100 Tonnen, damit es so richtig stabil wird. Und dann bemängelt er ständig an dieser und an jener Stelle etwas, so dass er bis zum jüngsten Tage nicht fertig wird.“
Nun, was sollen wir tun? Keine Kunst erlernt man aus Büchern, sondern vom Fachmann. Ohne den Fachmann gefunden zu haben, kannst du nicht lernen etwas auf die vollkommenste Art und Weise zu vollbringen. Nicht durch das Lesen, sondern durch das Beobachten erlangt man Perfektion.
Von wem überträgt sich die Kunst der Vollkommenheit? Sie überträgt sich von demjenigen, der die Vollkommenheit inne hat. „Der Vollkommene überträgt Vollkommenheit und der Mangelhafte überträgt Mangelhaftigkeit“, sagt unser Großscheikh.
Warum gibt es die Lehrer und die Meister? Weiß es jemand? Wenn es jemand weiß, so soll er es sagen. Sind sie Vogelscheuchen auf einem Acker? Oder warum gibt es Lehrer und Meister?
Ein Lehrer lehrt dich die Details von dem Gelesenen und wenn er ein Sachverständiger ist dann lehrt er dich auch den Sinn dahinter. Die Aufgabe des Lehrers ist es, das Wissen des Buches dem Schüler gemäß seiner Auffassungsgabe und auf eine ihm verständliche Art und Weise zu übermitteln.
Würde der Lehrer nicht jedem Schüler gemäß seiner Auffassungsgabe Erläuterung liefern, so wäre es für den Schüler nur sehr schwer, aus eigenem Bemühen heraus etwas zu verstehen. Gäbe es niemanden, der die Dinge gemäß der Auffassungsgabe der Menschen erläutern würde, was verstünde dann der Mensch? Alleine ist es sehr schwer.
Warum gibt es den Meister? Die Aufgabe des Meisters ist es, das Wissen und die Kunst gemäß der Befähigung und des Talents des Lehrlings exemplarisch und erläuternd zu übermitteln. Je nach Situation und Lage und gemäß der Beschaffenheit der Arbeit lehrt er den Lehrling die richtige Vorgehens- und die praktischste Umsetzungsweise.
Kurz gesagt, das Wissen und die Kunst ist der Meisters selbst. Der Meister ist keine Vogelscheuche für die Raben, wohl eher ist er ein Vorbild für die Suchenden des Wissens. Für den Lehrling stellt er den vollkommenen Menschen dar.
Die Propheten, der Friede sei über ihnen, wurden mit dieser Aufgabe zu den Menschen gesandt.
Wie wird man ein vollkommener Mensch? In Wirklichkeit ist jedes Geschöpf einzigartig und vollkommen, aber ein vollkommener Mensch zu sein bedeutet etwas anderes. Diese Bedeutung zu erlangen und dieser Bedeutung gerecht zu werden ist nicht einfach.
Wer goldene Armreife haben will, geht zum Goldschmied. Wer Bedeutungen verlangt, muss einen Hüter der Bedeutungen finden.
Alle Propheten sind jeweils Hüter von Göttlichen Bedeutungen. Wer Anteil an den Geheimnissen des Daseins und den Weisheiten des Lebens haben will, muss den Propheten folgen und so handeln, wie sie es getan haben, so leben, wie sie gelebt haben.
Denn sie sind die einzigen Lehrer und Meister der göttlichen Geheimnisse und des Lebens. Sie erläutern dir sowohl die äußere Form als auch die innere Wirklichkeit. Sie bieten dir sowohl das theoretische als auch das praktische Wissen. Sie lehren dich gemäß den Bedingungen und den Regeln des Lebens zu leben und, indem sie ihre Worte vor deinen Augen in Taten umsetzen, zeigen sie dir beispielhaft die richtige Lebensweise. Sie vertreiben also nicht wie die Vogelscheuchen Raben.
Der Allmächtige gebietet: „Eignet euch die Eigenschaften Gottes an.“ Was bedeutet das? Es drückt den Appell aus, Seinen Willen in schönster und vollkommenster Art und Weise umzusetzen.
In diesem Vers wird betont: „Wenn du etwas tun willst, dann gib dein Allerbestes. Wenn du das nicht kannst, dann lass es bleiben und erspare dir und anderen unglücklich zu sein.“
Jeder Mensch, auch wenn er eine noch so kleine Rolle spielt, verlangt, dass sein Erscheinen und seine Werke sein Bestes bezeugen. Es gibt niemanden, der dies nicht will. Es ist ein Charakterzug des Egos, in erster Linie die Nummer Eins in der Welt zu sein. Obwohl jedes Ego die Nummer Eins zu sein wünscht, so gibt es doch kein Ego, das sich freiwillig dafür anstrengt.
Viele wollen die Nummer Eins sein, aber nur den wenigsten gelingt es. Das Ego verabscheut Strapazen.
„Sein Spiegel sind seine Werke, schau nicht auf sein aufgeblähtes Wort“, heißt es in einem von den Osmanen überlieferten türkischen Sprichwort. Die Welt ist voller großer Worte. Jeder, der ein Mundwerk hat, spricht. Viele Worte und es folgen keine Taten. Finde doch jemanden, der das in die Tat umsetzt, was er sagt.
Die Welt ist voller Händler die Illusionen verkaufen wollen. Es heißt, dass derjenige, der die Suche nach der Wahrheit aufgibt, den Illusionen hinterher rennt.
Das Mundwerk eines jeden ist erste Klasse. Die Welt ist voll von solchen Leuten. Warum? Denn jeder, der neu hier ankommt, nimmt seinen Vorgänger als Beispiel. Und wenn das Vorbild wie eine Vogelscheuche nur die Raben anspricht, wer soll dann diejenigen, die wahrlich Mensch werden wollen, ansprechen?
Die Propheten wurden in diese Welt gesandt, um als Beispiel der Vollkommenheit den Weg derer zu ebnen, die an der Ehre der Vollkommenheit teilhaftig werden wollten, ein wahrer Mensch zu werden und im Diesseits als auch im Jenseits die Nummer Eins zu sein.
Wer Tischler werden will geht zum Tischlermeister, wer Schmied werden will geht zum Schmiedemeister, wer Schneider werden will geht zum Schneidermeister. Jeder geht zu dem Meister der Kunst, die er beabsichtigt zu erlernen, und nimmt ihn als Vorbild. Wie lernt der Lehrling vom Tischlermeister? In dem er so arbeitet und so verarbeitet wie sein Meister.
Heute gibt es viele die Model werden möchten. Das Fernsehen läuft schon von ihnen über. Jeder will das Podium besteigen und die Nummer Eins werden. Dass es jedoch nicht jeder sein kann, sehen wir daran, dass am Ende von tausend nur noch eine Person übrig bleibt. Viele scheiden aus, werden gestürzt.
Was lernt derjenige der das Podium besteigt als aller erstes? Das richtige Gehen; sie lernen also, sich von einem Punkt zum anderen richtig zu bewegen. Wer nicht richtig gehen kann, fällt vom Podium herunter. Das Leben gleicht diesem Podium. Wem es nicht gelingt richtig zu gehen, der mag eines Tages vom Lebenspodium herunter fallen. Man wird fallen, fallen und in dem Abgrund, in den man gefallen ist, letztlich verschwinden.
Im Fernsehen gibt es jeden Tag einen neuen Aufruf: Wer wird der nächste König bzw. die nächste Königin des Podiums sein? Sie sagen also: „Wir suchen die Vollkommenste, Schönste und Ehrenvollste für das Podium.“ Jeden Tag wird nach der schönsten Person gesucht. Die Schönste aus Deutschland, die Schönste aus der Türkei, die Schönste Amerikas, die Schönste Europas, die Schönste der Welt und die Schönste der Schöpfung.
„Nun“, sage ich, „ich habe das mit der Schönsten Türkeis, Deutschlands, Amerikas und Europas verstanden, aber wie könnt ihr die Schönste der Schöpfung wählen? Das verstehe ich nicht! Habt ihr etwa zusammen mit den anderen Planeten abgestimmt und ich habe das einfach nicht mitbekommen. Berichtet mir doch auch davon!“
„Nein, Nein Eşref Efendi, so etwas können wir doch gar nicht, wie sollen wir dir davon berichten? Wir sagen es doch nur einfach so, um uns die Taschen füllen. Es soll nur eine Spielerei sein. Wozu sonst gibt es die Menschen?“ Um sie einzuschläfern und zu betrügen, sagen sie.
Kurzum, die ganze Welt rennt der Lüge, der Spielerei und der Illusion, der Scheinehre und der Scheinvollkommenheit hinterher. Wer den Illusionen folgt, der stößt eines Tages entweder seinen Kopf gegen die Mauer oder stürzt in den Abgrund.
Wer sich die Vogelscheuchen als schönes Vorbild nimmt, den lachen am Ende sogar die Raben aus. „Schaut, schaut! Diese dumme Vogelscheuche denkt, sie wäre etwas - wie sie sich aufbläht“, sagen sie dann.
O ihr Menschen, sich Gottes Moral und Eigenschaften anzueignen, bedeutet: mache alles so, wie es Gott macht. Nimm den Erhabenen Herrn als das schönste Beispiel. Sei so wie Er die Nummer Eins bei deinen Werken, mache deine Werke perfekt. Lass das, was du in die Hand nimmst, zu Gold werden, oder leg es ab und mühe dich nicht vergebens. Wer soll denn etwas mit untauglichem Blech anfangen?
Das vollkommene Werk bedeutet, es so zu machen wie es der Meister gezeigt hat. Denn der Meister lehrt dich eigentlich nicht das Handwerk, sondern die Weisheit dahinter. Und wer die Weisheit dahinter kennt, der verrichtet sein Handwerk auf vollkommenste Art und Weise.
Wer ist der Meister? Er ist derjenige, der die Weisheit seines Handwerks von seinem eigenen Meister gelernt hat. Der Allmächtige ist der einzige Meister. Und Gott will dich mittels der Propheten und den Heiligen lehren.
„Komm“, sagt Er, „lass Mich dir die Geheimnisse jeglichen Handwerks lehren und ihre Wahrheit zeigen. Du brauchst nur zu kommen und es so zu machen, wie Ich es dir gebiete und zeige. Denn Ich bin der einzige der alles auf vollkommenste Art und Weise erschuf und machte.“
Daher bedeutet sich die Moral und Eigenschaften Gottes anzueignen, seine Werke in Perfektion zu vollbringen. Wie schön für den Verständigen!